2014 Obergericht, Abteilung Strafgericht 38
4 Art. 147 Abs. 1 und Art. 185 StPO
- Recht der beschuldigten Person auf Teilnahme ihrer Verteidigung bei der Untersuchung durch eine sachverständige Person.
- Eine beschuldigte Person hat während der Untersuchung durch eine sachverständige Person kein Recht auf Teilnahme ihrer Verteidi-
gung.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 16. Januar 2014 i.S. Y.Ü. gegen Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm
(SBK.2013.373).
Sachverhalt
Y.Ü., beschuldigte Person, ersuchte durch ihre Rechtsvertretung
bei der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm um Teilnahmemöglichkeit
der Verteidigung bei der Untersuchung durch die sachverständige
Person. Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm verfügte die Abwei-
sung des Ersuchens. Y.Ü. erhebt dagegen Beschwerde.
Aus den Erwägungen
2.1.
Zu beurteilen ist die Frage, ob ein Beschuldigter während der
Untersuchung durch einen sachverständigen Psychiater das Recht auf
Anwesenheit seines Verteidigers hat.
2.3.
2.3.1.
Gemäss Art. 182 StPO ziehen Staatsanwaltschaft und Gerichte
eine mehrere sachverständige Personen bei, wenn sie nicht über
die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Fest-
stellung Beurteilung eines Sachverhalts erforderlich sind.
Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm führt gegen den Be-
schwerdeführer ein Strafverfahren wegen Drohung und Nötigung.
Um abzuklären, ob er für Dritte eine Gefahr darstellen könnte oder
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zum Tatzeitpunkt unter Umständen vermindert zurechnungsfähig
war, hat die Staatsanwaltschaft Frau Dr. T., Fachärztin für Psychi-
atrie, als Sachverständige mit der Erstellung eines Kurzgutachtens
beauftragt.
2.3.2.
2.3.2.1.
Das Gespräch mit einer zu begutachtenden Person durch den
Sachverständigen wird gemäss Botschaft zur Vereinheitlichung des
Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005 (BBl 2005 1212) von
Art. 185 Abs. 4 StPO erfasst, wonach der Sachverständige einfache
Erhebungen, die mit dem Auftrag in engem Zusammenhang stehen,
selbst vornehmen kann. Eine Beteiligung der Justizorgane ist bei sol-
chen Gesprächen nicht sinnvoll möglich, der Sachverständige muss
deshalb zu selbständigen Erhebungen befugt sein (MARIANNE HEER,
in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011,
N. 29 zu Art. 185).
2.3.2.2.
Fraglich ist, ob die Teilnahmerechte nach Art. 147 Abs. 1 StPO
auch für selbständige Erhebungen der Sachverständigen nach
Art. 185 StPO gelten.
Gemäss der herrschenden Lehre erstreckt sich das Teilnahme-
recht nach Art. 147 Abs. 1 StPO nur auf die Beweisabnahme als sol-
che, nicht auf deren Vorbereitung. Konkret gilt als Beweisabnahme
nur das Erstatten des Gutachtens, nicht aber die Erstellung. Bei erste-
rem gelten die Teilnahmerechte, bei letzterem nicht (WOLFGANG
WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung
(StPO), 2010, N. 1 zu Art. 147 StPO). Art. 185 StPO gilt als lex spe-
cialis zu Art. 147 StPO (JOËLLE VUILLE, in: Commentaire romand,
Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 15 zu Art. 185 StPO).
Dem Beschuldigten seinem Verteidiger muss bei der Befragung
durch den Sachverständigen (oder allenfalls später im Rahmen einer
weiteren Befragung durch die Strafbehörde) nur Gelegenheit zur An-
wesenheit und zum Stellen von Ergänzungsfragen geboten werden,
wenn es sich bei der befragten Person um einen Belastungszeugen
gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK handelt (ANDREAS DONATSCH, in:
Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2010,
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N. 40 zu Art. 185 StPO). Es kann demnach selbst bei Sachverständi-
gen als Belastungszeugen genügen, wenn der Betroffene später Gele-
genheit zu Ergänzungsfragen erhält. Teilweise wird der fehlende An-
spruch auf Teilnahme durch die parlamentarische Diskussion begrün-
det, dort wurde der Antrag auf Schaffung solcher Rechte zurückgezo-
gen (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxis-
kommentar, 2. Auflage 2013, N. 10 zu Art. 185; zum Ganzen siehe
auch Beschluss der 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons
Bern vom 30. März 2011, SK-Nr. 10 387 und Beschluss der III.
Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 11. Mai
2011, publiziert in ZR 110/2011 Nr. 41).
2.3.2.3.
Das Bundesgericht hat sich in BGE 132 V 443 mit einer ähnli-
chen Frage befasst. Es hatte zu beurteilen, ob der Rechtsvertreter ei-
ner Versicherten bei einer polydisziplinären Begutachtung im Auf-
trag der IV-Stelle seine Klientin begleiten könne. Im Urteil differen-
ziert das Bundesgericht zwischen der Verhandlung vor einem Gericht
oder einer Behörde und einer Begutachtung durch einen Experten,
wenn die Partei in einem Verfahren selbst Gegenstand der Beweisab-
nahme ist, bspw. wenn es darum geht, den Gesundheitszustand der
betroffenen Person abzuklären. Diese Person ist dabei nicht in erster
Linie als Verfahrenspartei beteiligt, die sich zum Begutachtungsob-
jekt äussert, sondern sie wird selbst begutachtet. Es geht darum, dem
medizinischen Begutachter eine möglichst objektive Beurteilung zu
ermöglichen, was bedingt, dass diejenigen Rahmenbedingungen zu
schaffen sind, die aus wissenschaftlicher Sicht am ehesten geeignet
sind, eine solche Beurteilung zu ermöglichen. Es muss eine Interak-
tion zwischen der begutachtenden und der zu begutachtenden Person
stattfinden. Die Begutachtung soll möglichst ohne äussere Einfluss-
nahme vorgenommen werden. Die Anwesenheit eines Rechtsbeistan-
des wäre diesem Zweck nicht dienlich: Dessen Aufgabe ist es, die
Interessen seiner Klientschaft zu wahren. Er kann zu diesem Zweck
auch einseitige Ansichten vertreten und entsprechend im Verfahren
intervenieren. Eine solche Intervention verträgt sich indessen nicht
mit der wissenschaftlichen Begutachtung, wo es - ähnlich wie bei
einer Zeugeneinvernahme, bei welcher sich der Zeuge auch nicht
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verbeiständen lassen kann - darum geht, dem Gutachter ein mög-
lichst unverfälschtes und wahrheitsgetreues Bild zu verschaffen
(BGE 132 V 443 E. 3.5).
Das Bundesgericht weist weiter darauf hin, dass das Zugestehen
der Parteirechte der zu begutachtenden Person zur Folge hätte, dass
aus Gründen der Waffengleichheit dieses Recht auch allfällig weite-
ren Parteien zugestanden werden müsste. Damit würden sich neue
Problemfelder öffnen und die Begutachtung als sinnlos erscheinen
lassen (vgl. BGE 132 V 443 E. 3.6).
In diesem Sinn ist eine sozialversicherungsrechtlich relevante
Untersuchung durchaus mit derjenigen des Beschuldigten im
Strafprozess zu vergleichen: Der Sachverständige ist nicht als Hand-
langer des Staats und damit als Gegner des Beschuldigten anzusehen,
sondern als aussenstehender, neutraler Beobachter. Er hat unter ande-
rem durch persönliche Untersuchung des Betroffenen dessen Persön-
lichkeit und allenfalls dessen Geisteszustand zum Tatzeitpunkt zu er-
forschen. Um zu einem möglichst objektiven Eindruck zu kommen,
muss diese Untersuchung in einer neutralen Umgebung und ohne
äussere Einflussnahme stattfinden können. Dass bei einer solchen
Begutachtung keine weiteren Parteien wie Mitbeschuldigte Pri-
vatkläger zugelassen werden können, erscheint unbestreitbar. Der
Beschuldigte hätte vor Publikum Hemmungen, sein Innerstes
preiszugeben würde ihn allenfalls belastende, für das Gesamt-
bild jedoch wesentliche Aussagen nicht mehr machen. Für einen
vollständigen Einblick in seine Persönlichkeit sind solche Auskünfte
jedoch unerlässlich.
Wird aber der Sachverständige nicht als Gegner angesehen und
werden keine weiteren Parteien zur Begutachtung zugelassen, besteht
auch kein Anlass, den Verteidiger des Beschuldigten beizuziehen.
Ohnehin wäre der Nutzen dieser Teilnahme als höchst fraglich
anzusehen. Das Gespräch mit dem Beschuldigten dient dazu, das
Bild des Sachverständigen abzurunden, um gestützt auf das
psychiatrische Fachwissen ein Gutachten erstellen zu können. Ergän-
zungsfragen des Verteidigers machen in diesem Rahmen im Gegen-
satz zu einer Einvernahme durch die Behörden wenig Sinn.
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2.3.2.4.
Die ablehnende Haltung der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm
findet sich demnach im Einklang mit der herrschenden Lehre und
Rechtsprechung. Es ist davon auszugehen, dass die schweizerische
Strafprozessordnung tatsächlich kein Teilnahmerecht des Verteidi-
gers bei einer psychiatrischen Untersuchung vorsieht.
2.3.3.
2.3.3.1.
Offen ist noch die Frage, ob möglicherweise das übergeordnete
Recht Teilnahmerechte vorsieht und die Argumentation des Be-
schwerdeführers unterstützt.
Gemäss Praxis zum übergeordneten Recht hat ein Beschuldig-
ter, der durch ein Gutachten belastet wird, Anspruch auf eine Kon-
frontation mit dem Sachverständigen. In einem solchen Fall kann der
Sachverständige als Belastungszeuge gelten (FRANK MEYER, in:
EMRK, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei-
heiten, Kommentar, 2012, N. 199 zu Art. 6 EMRK). Art. 6 Ziff. 3 lit.
d EMRK garantiert einem Beschuldigten das Recht auf mindestens
einmalige, angemessene und hinreichende Gelegenheit, das Gutach-
ten in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Sachverständigen zu stel-
len (MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Straf-
prozessordnung, 2011, N. 5 zu Art. 187 StPO). Hintergrund dieser
Rechtsprechung ist das Urteil EGMR Bönisch gegen Österreich vom
6. Mai 1985, in dem es um die Frage ging, ob ein Experte, dessen
Bericht auch für die Anhebung der Strafuntersuchung ursächlich war,
als neutraler Sachverständiger gelten kann (Ziff. 32). Der Gerichts-
hof kam zum Schluss, der betreffende Experte sei eher als
Belastungszeuge anzusehen. Diese Konstellation ist aber nicht mit
der vorliegenden zu vergleichen. Die Sachverständige hatte keinen
Einfluss auf die Anhebung des Strafverfahrens, sondern wurde nach-
träglich hinzugezogen. In einem solchen Fall wie im erwähnten Ur-
teil EGMR würden in der Schweiz tatsächlich die Schutzmechanis-
men der StPO greifen, weil der betreffende Beschuldigte sich bei der
Auswahl des Sachverständigen äussern und seine Bedenken mitteilen
könnte (vgl. Art. 184 Abs. 3 StPO). Die Garantien von Art. 6 Ziff. 1
EMRK beziehen sich auf das gerichtliche Verfahren und haben nur
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ausnahmsweise Auswirkungen auf Ermittlungen durch Sachverstän-
dige. Als Grundsatz gilt, dass Beteiligte kein Recht haben, bei Anhö-
rungen durch den Sachverständigen anwesend zu sein (JENS MEYER-
LADEWIG, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Hand-
kommentar, 3. Auflage 2011, N. 155 f. zu Art. 6 EMRK). Anderer
Meinung ist Carolina Isabel Marques Lopes, die davon ausgeht, der
EGMR statuiere ein Recht auf Teilnahme des Beschuldigten und sei-
nes Vertreters an Erhebungen durch Sachverständige (CAROLINA
ISABEL MARQUES LOPES, La participation de la défense aux experti-
ses pénales, in: Jusletter vom 6. Januar 2014, S. 6 f.). Die von ihr
angeführten Entscheide behandeln jedoch die Gespräche von
Sachverständigen mit Dritten, nicht die Untersuchung des Be-
schuldigten persönlich. Sie sind mithin nicht vergleichbar.
Die Rechtsprechung des EGMR bietet folglich keinen Grund,
die Sachverständige im zu beurteilenden Fall als Belastungszeugin
anzusehen, und begründet demnach auch kein Teilnahmerecht des
Verteidigers an den Untersuchungsgesprächen mit dem Beschwerde-
führer. Anders zu beurteilen wäre allenfalls der Fall von Befragungen
von Dritten durch den Sachverständigen, dieses Problem stellt sich
aber in casu nicht.
2.3.3.2.
Die vom Beschwerdeführer eingebrachten Entscheide und Lite-
ratur vermögen dieses Resultat nicht zu ändern. Im Urteil Barbera,
Messegué und Jabardo gegen Spanien vom 6. Dezember 1988 hielt
der EGMR fest, dass Beweise prinzipiell in öffentlicher Verhandlung
vor dem Beschuldigten erhoben werden müssen, damit eine kontra-
diktorische Verhandlung stattfinden kann (Ziff. 78). Das Urteil A.M.
gegen Italien vom 14. Dezember 1999 behandelt die Einvernahme
von (einzigen) Zeugen der Anklage in Übersee ohne Beisein der Ver-
teidigung. Damit behandeln beide Urteile Einvernahmen von Belas-
tungszeugen und sind nach dem oben gesagten nicht einschlägig.
Wolfgang Peukert schliesslich beleuchtet verschiedene Besonderhei-
ten im Strafverfahren, ohne dass eine auf den vorliegenden Fall
anzuwenden wäre (WOLFGANG PEUKERT, in: Europäische Men-
schenRechtsKonvention, EMRK-Kommentar, 3. Auflage 2009,
N. 167 ff. zu Art. 6 EMRK).
2014 Obergericht, Abteilung Strafgericht 44
2.3.4.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass weder die StPO noch
das übergeordnete Recht ein Teilnahmerecht des Verteidigers des Be-
schwerdeführers bei der Untersuchung durch die Sachverständige be-
gründen. Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.
(...)